Die Langsamkeit des Europäischen Seins
Die Langsamkeit des Europäischen Seins
In den vergangenen zehn Jahren sind wir als Land weit gekommen. Trotz aller Herausforderungen, die sich vor uns aufbäumten, haben wir uns in allen gesellschaftlichen Bereichen bemerkenswert entwickelt. Doch werfen wir einen Blick auf die aktuelle Lage, so legt die Pandemie offen, wie radikal sich die Welt geändert hat – und wie unzureichend wir in diesem Zusammenhang agieren. Die Krise hält uns den Spiegel vor. Sie ermöglicht uns, etwas Grundsätzliches an unserem Charakter zu erkennen – und ihn im nächsten Schritt neu zu justieren.
In diesem Spiegel sehen wir, wie leicht es uns fällt, Ideen für unsere Zukunft zu entwickeln – und gleichzeitig, wie schwer es uns fällt, sie umzusetzen. Dass sich die Welt, in der wir leben, grundlegend verändert hat, ist mittlerweile bei uns allen im Kopf angekommen. Ideen dazu, wie wir unsere Reise im 21. Jahrhundert gestalten können, gibt es im Überfluss. Das Problem ist: Wir schaffen es nicht, sie zu realisieren – sondern verharren in alten Gewohnheiten; und werden so von der Wirklichkeit überholt.
Europa hinkt China und den USA hinterher. Ein aktuelles Beispiel ist die Impfung der Bevölkerung. Die Vergleichstabellen listen uns am unteren Ende der Skala auf – und spiegeln somit eindrücklich unsere Situation wider. Obwohl eine deutsche Firma den ersten Impfstoff entwickelt hat, bilden wir gemeinsam mit Europa das Schlusslicht bei dessen Bestellung und Verabreichung. Ein besseres Sinnbild für die Aufgabe, die uns bevorsteht, kann es kaum geben.
Die Pandemie ist ein glasklar reflektierender Spiegel – der uns unsere Vorliebe für langsame und gründliche Prozesse vorhält, die wir uns im vergangenen Jahrhundert anerzogen haben. Wir stehen vor vielen globalen Herausforderungen, die ein ähnliches Anforderungsprofil vorweisen und auf die wir schnell reagieren müssen. Doch leider sind wir nicht nur in bestimmten Dingen langsam, sondern prinzipiell. Wir wollen die Dinge richtig machen, und lassen uns nicht hetzen.
Ein Gesetz der „neuen“ Welt lautet: Nicht die beharrlichsten Akteure überleben und prosperieren, sondern die schnellsten – wir reden hier von Echtzeit – und konsequentesten. Im Gegensatz dazu scheint es eine Europäische Charaktereigenschaft geworden zu sein, sehr genau hinschauen und die Dinge kritisch hinterfragen zu wollen, sie lückenlos zu prüfen und dafür zu sorgen, dass „alles seine Ordnung hat“. Das funktioniert in einer explosionsartig dynamischen Welt, in der Chaos herrscht und Ereignisse unberechenbar eintreten, nicht mehr.
Die Beschaffungs- und Verhandlungspolitik der EU bei der Besorgung von Impfstoffen war ein Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn die Geisteshaltung des Industriezeitalters auf neue globale Herausforderungen trifft. Die Europäische Kommission führte harte Preisverhandlungen. Sie hat dem Prüfprozess für den Impfstoff seinen Lauf gelassen – um Qualität sicherzustellen und das Vertrauen innerhalb der Bevölkerung zu gewinnen. Sie hat die Pharmaunternehmen in die Haftungspflicht genommen, um zu garantieren, dass sie verantwortungsbewusst handeln. Gleichzeitig hat sie die Firmen aufgefordert, Risiken einzugehen, um den Impfstoff schnellstmöglich liefern zu können. In erster Linie hat sie sich aber Zeit gelassen und die Verträge im für sie passenden, späten Moment unterzeichnet, um die benötigten Liefermengen zu erhalten.
Die Kommission hat aus einer Haltung heraus gehandelt, die in der geordneten Welt des Industriezeitalters entwickelt und optimiert wurde. Sie hat sich im Laufe der vergangenen 150 Jahre verfestigt – und bis vor kurzem auch funktioniert. Doch ein Virus entwickelt sich nicht linear. Unsere über soziale Medien vernetzte Gesellschaft schert sich nur noch wenig um Prozesse und Fakten. Exponentialität und Aufschauklungsphänomene prägen die neue Wirklichkeit. Um sie zu managen, benötigen wir eine andere Haltung als die aus dem letzten Jahrhundert.
Wäre die EU-Kommission instinktiv dem Geschwindigkeitsprinzip statt dem Gründlichkeitsprinzip gefolgt, wären die Verhandlungen sicher anders verlaufen:
• Schnelle Versorgung wäre dann wichtiger gewesen als Effizienz.
• Direkt zum Impfstart eine hohe Impfstoffmenge zu sichern, wäre wichtiger gewesen, als Verschwendung zu vermeiden.
• Unternehmerische Freiheit für die Impfstoffhersteller wäre wichtiger gewesen als deren Fehlerhaftung.
• Durchschlagskraft bei der Umsetzung der Impfkampagne wäre wichtiger gewesen als Sparsamkeit.
Wir hätten viele Leben gerettet und Unsummen an Geld gespart; und wir wären der exponentiellen Dynamik des Virus gerecht geworden. Es gibt sicher kluge Köpfe in der Kommission, die diese neue Wirklichkeit intellektuell verstanden haben. Trotzdem waren das System und sein politisches Gefüge nicht in der Lage, entsprechend zu handeln.
Diese Liste von Prinzipien für die Impfstoffbeschaffung erinnert nicht zufällig an das „agile Manifest“ für komplexe IT-Projekte, das vor 20 Jahren formuliert wurde. Wir selbst haben damals die Grundsätze des Manifests durch radikal neue Vorgehensweisen im Projektmanagement angewendet, um die Komplexität unserer Aufgaben zu meistern. Das fiel uns leicht, denn wir konnten in Einzelprojekten in der Freiheit privatwirtschaftlicher Umfelder arbeiten – und waren es gewohnt, unternehmerische Risiken einzugehen. Wir konnten hautnah erleben, wie gesehen und zufrieden sich unsere Kunden fühlten, wenn wir agil und flexibel auf ihre Bedürfnisse reagierten.
Aber auch im wirtschaftlichen Kontext zeichnete sich der Konflikt mit der alten Welt ab. Denn Konzernleitungen und öffentliche Verwaltungen bezogen gemäß ihrer Gewohnheiten für die Stabilität der bestehenden Systeme Stellung – und ließen so Erfolg nicht zu. Gegen die alten Strukturen konnten wir uns mit unseren Projekten nur selten durchsetzen. In der Digitalisierung hinken die EU-Länder den restlichen hochentwickelten Ländern hinterher – weil sie die Skepsis gegenüber den Wirkmechanismen der neuen Welt zelebriert haben. Wir hatten es nicht eilig – bis uns der Boden unter den Füßen weggerutscht ist und unsere Probleme uns zur Handlung drängten.
Wir dürfen dabei nicht unterschätzen, wie sehr die Erfolgsstrategien des vergangenen Jahrhunderts gegen die überfällige Transformation arbeiten. Früher haben wir unsere Sicherheit im Materiellen gesucht, Karriere gemacht, Geld verdient, ein Haus gebaut. Ordnung haben wir uns von außen beschafft, durch Status und Erfolg. Durch die ständigen Veränderungen finden wir im Außen aber kaum noch Halt. Stattdessen können wir nur noch in uns selbst Sicherheit erschließen. Wir befinden uns in einem Sturm, der durch unsere Mitte hindurchfegt, und haben mit dem starren Geist der Vergangenheit kein Mittel zur Hand, das uns vor ihm schützt.
Das Gold der neuen Zeit befindet sich in unserem Inneren. Ideen sind die neue Währung. Und sie schießen in einer atemberaubenden Geschwindigkeit wie Pilze aus dem Boden. Aufmerksamkeit ist das knappe Gut, das in den Fokus der Wirtschaft rückt. Flexibilität und Beziehungsfähigkeit werden zu den Kernkompetenzen für jene Aufgaben, die wir noch nicht im Stande sind zu automatisieren.
In dieser Welt können wir nicht standhaft sein, vielmehr navigieren wir in der Bewegung. An kaum etwas können wir uns festhalten. Wir müssen lernen, die meisten Informationen an uns vorbeiziehen zu lassen – um wichtige Signale vom allgemeinen Lärm des Sturms unterscheiden zu können. Bei einer derart volatilen Umwelt können wir nur dann in uns selbst ruhen, wenn wir wissen, wer wir sind und was uns wichtig ist. Auf den fehlenden Halt von außen – das können wir lernen – sollten wir mit Halt aus unserem Inneren reagieren.
Es ist für uns in Europa an der Zeit, ein neues Wirklichkeitsverständnis zu bilden. Eine erste Erkenntnis könnte sein, dass wir die Geisteshaltung eines zwanzig Jahre alten Manifests sofort, vorbehaltlos und prinzipiell in allen komplexeren Bereichen anwenden, es in jeder Ausschreibung, in jedem Schulkonzept, in jeder öffentlichen Verwaltungstätigkeit und als intendiertes Vorgehen in jedem Projekt zur Maxime erheben. Wären solche Prinzipien Teil des Verhandlungsleitfadens für den Europäischen Impfstoffeinkauf gewesen, würden wir heute viel besser dastehen.
Wir müssen Menschen in allen Lebensbereichen zum Komplexitäts-Mindset führen und dementsprechend ausbilden. Darauf gilt es in den nächsten Jahren den Fokus zu legen. Letztendlich liegt eine unserer größten Chancen darin, unser Bedürfnis nach Status und den alten Sinnbildern von Erfolg loszulassen, um in unserem Inneren für die Geisteshaltung der neuen Welt reif zu werden.
Wie immer auf einem Transformationsweg: Es gibt viel zu tun. Packen wir es an!
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